Die atypische Netznutzung beschreibt ein spezielles Netzentgeltmodell gemäß §19 StromNEV, das Unternehmen finanziell begünstigt, wenn sie ihre höchste Leistungsaufnahme nicht zu den Zeiten abfordern, in denen das Stromnetz am stärksten ausgelastet ist. Jede Netzebene weist bestimmte Stunden im Jahr auf, in denen der gleichzeitige Stromverbrauch typischerweise besonders hoch ist. Diese kritischen Zeiträume definiert der jeweilige Verteilnetzbetreiber (VNB) als Hochlastzeitfenster (HLZF).
Während die meisten gewerblichen Verbraucher ihre Spitzenlast genau in diesen Stunden erreichen, können große Betriebe durch gezieltes Lastmanagement, flexible Produktionszeiten oder den Einsatz von Energiespeichern ihre maximale Leistungsabnahme in andere Tageszeiten verlagern. Dadurch wird das Stromnetz zu den kritischen Spitzenzeiten spürbar entlastet, da der Netzbetreiber für diese Kunden weniger Leistungskapazität vorhalten muss.
Hochlastzeitfenster – Entstehung und Bedeutung
Ein Hochlastzeitfenster ist der Zeitraum, in dem das Stromnetz einer Netzebene am stärksten belastet ist. In diesen Stunden verbrauchen insbesondere Industrie- und Gewerbebetriebe gleichzeitig hohe elektrische Leistungen – etwa morgens beim Hochfahren von Maschinen, Kompressoren oder Produktionsanlagen oder am späten Nachmittag während paralleler Fertigungsprozesse.
Für den Netzbetreiber sind diese Stunden entscheidend, da hohe gleichzeitige Leistungsentnahmen die Netzinfrastruktur maximal beanspruchen. Um diese Zeiträume zu bestimmen, analysiert der VNB das gesamte Jahr über die Netzlast, wertet Messdaten aus verschiedenen Sektoren aus und berücksichtigt Einflussfaktoren wie Wetter, Jahreszeit, Feiertage oder außergewöhnliche Betriebssituationen. Auf Basis dieser Daten legt der Netzbetreiber anschließend die Hochlastzeitfenster für das folgende Jahr fest.
Wie entsteht die Vergünstigung? – Mechanismus der Netzentgeltreduzierung
Die finanziellen Vorteile ergeben sich nicht dadurch, dass atypische Unternehmen generell „günstigere“ Spitzenlasten hätten, sondern aus einer geänderten Art der Leistungsbemessung.
Unternehmen ohne Atypik zahlen den Leistungspreis (€/kW) immer auf Basis ihrer höchsten Last des gesamten Jahres.
Atypische Netznutzer hingegen zahlen den Leistungspreis nur auf die höchste Last innerhalb des Hochlastzeitfensters (HLZF) – selbst wenn außerhalb des HLZF eine deutlich höhere Last aufgetreten ist.
Dadurch reduziert sich die Bemessungsgrundlage erheblich, wenn die Last außerhalb der HLZF Spitzen aufweist, im HLZF aber deutlich niedriger bleibt. Genau daraus ergeben sich die deutlich geringeren Netzentgelte.
Voraussetzungen für die Anerkennung als atypischer Netznutzer
Damit ein Unternehmen als atypischer Netznutzer eingestuft wird und reduzierte Netzentgelte erhält, müssen mehrere gesetzliche und technische Kriterien erfüllt sein. Entscheidend ist der messbare Nachweis, dass die Last aktiv und dauerhaft aus den Hochlastzeitfenstern heraus verlagert wird.
1. Mindestreduktion der Spitzenlast in den Hochlastzeitfenstern („100-kW-Regel“)
Innerhalb der Hochlastzeitfenster muss die Spitzenlast signifkant geringer sein, als außerhalb der Hochlastzeitfenster. Sigifikant bedeutet, dass der Unterschied mindestens 100 kW betragen muss.
Neben der absoluten Differenz muss auch eine relative Abweichung eingehalten werden. In der Praxis gilt ein Unterschied von 5–20 % zwischen der Spitzenlast im HLZF und der globalen Jahresmaximallast, abhängig davon auf welcher Spannungsebene des Verteilnetzbetreibers der Verbraucher angeschlossen ist.
2. Stabiler und wiederkehrender Lastverlauf
Das Lastverhalten muss:
regelmäßig,
planbar und
über mehrere Jahre stabil
sein. Einmalige oder zufällige Verschiebungen reichen nicht aus. Die atypische Nutzung muss technisch oder betrieblich begründet und wiederkehrend sein.
3. Lastgangmessung über registrierende Leistungsmessung (RLM)
Für die Analyse wird ein RLM-Zähler benötigt, der die Leistung alle 15 Minuten misst. Dadurch kann der Netzbetreiber genau prüfen, wie sich die Last im HLZF verhält und ob tatsächlich eine Entlastung entsteht.
4. Antrag, Nachweise und Prognose
Der Kunde muss jährlich einen Antrag stellen und folgende Unterlagen vorlegen:
historische Lastprofile,
eine Prognose für das kommende Jahr,
technische oder organisatorische Begründungen für das atypische Verhalten.
Der Netzbetreiber prüft, ob die Voraussetzungen erfüllt sind und ob eine nachhaltige Entlastung vorliegt.
